Kampf dem Dateien-Wirrwarr beim Satellitenbau
Luft- und RaumfahrtDas junge Bremer Software-Unternehmen Valispace will Raumfahrtingenieuren die Arbeit leichter machen
Ihr beruflicher Erfolg entscheidet sich Tausende Kilometer über der Erde. Doch am Computer haben Raumfahrtingenieure oft mit sehr irdischen Problemen zu tun. Denn je komplexer die Bauprojekte werden, desto unübersichtlicher wird auch die Menge der Dateien, die bei jeder Änderung im Bauplan aktualisiert werden muss. Marco Witzmann hat es als Ingenieur im Satellitenbau selbst erlebt – und seinen Ärger erfolgreich in eine Geschäftsidee umgewandelt. Mit seinen jungen Bremer Unternehmen Valispace entwickeln er und sein Team seit zwei Jahren webbasierte Software, die Ingenieuren Arbeitserleichterungen und ein Ende des Dateien-Wirrwarrs verspricht.
Herr Witzmann, Sie haben als Ingenieur im Satellitenbau gearbeitet und waren irgendwann ziemlich genervt davon, dass Sie im Laufe jedes Projekts immer mehr Excel-, PDF- und Word-Dateien im Blick behalten mussten. Wodurch entsteht neben den eigentlichen Konstruktionsplänen ein solcher Wust an Dokumenten?
Viele Menschen glauben, dass komplexe Produkte durch einen hübschen, am Computer entwickelten Konstruktionsplan, ein sogenanntes CAD-Modell, bereits zu genüge beschrieben sind. Aber das mechanische Aussehen ist dabei nur ein kleiner Bruchteil. Denken wir mal an ein Auto: Natürlich spielt die Struktur eine Rolle, aber zusätzlich gibt es viele Fragen, die bei der Entwicklung durch Ingenieure beantwortet werden müssen: Wie lange braucht der Airbag zum Öffnen? Wie lang ist der Bremsweg in einer Kurve bei Regen? Wie hängen die Einspritzverhältnisse des Sprits mit der Drehzahl zusammen? Wie viele Umdrehungen muss der Ventilator der Klimaanlage bei 30 Grad Celsius drehen, damit es der Fahrer schön kühl hat? Für all solche Analysen wird entweder spezielle Simulations-Software verwendet, die wiederum große Datenmengen als Input braucht und auch selbst produziert, oder ausgeklügelte Excel-Dateien der Ingenieure. In jedem Fall müssen diese Fälle analysiert und berichtet werden. Und wenn das Auto jetzt doch zehn Zentimeter breiter geworden ist, muss man einige dieser Analysen in einer zweiten oder dritten Version wiederholen etc. Daher kommen bei komplexen Produkten, wie beispielsweise einem großen Satellitenprojekt, mehrere hunderttausend Dokumente zusammen.
Wo liegen aus Ihrer Sicht die typischen Fallstricke, wenn bei komplexen Projekten in der Luft- und Raumfahrt mit vielen Dokumenten gearbeitet wird?
Der dokumentenbasierte Ingenieurs-Prozess wurde in den 60er-Jahren erfunden, um irgendwie alle Daten zusammenzutragen und zu analysieren. Leider hat sich allerdings in den letzten 50 Jahren nicht viel verändert, außer dass wir diese Dokumente heute mit Word statt mit der Schreibmaschine schreiben. Gleichzeitig sind aber die Produkte, die heute entwickelt werden, um ein Vielfaches komplexer geworden. Sie werden deshalb gerade in der Raumfahrtbranche auf mehrere Firmen verteilt und mit Dutzenden von Zulieferern gemeinsam entwickelt.
Wir haben also einen exponentiellen Zuwachs von Komplexität beobachten können, auf den die Branche lediglich mit dem Einsatz von „Dokumenten-Management-Systemen“ und dem Einstellen von Dokumentenmanagern antwortet, die das Problem managen, aber nicht lösen.
Marco Witzmann, Co-Founder und CEO bei Valispace
Kein Qualitätsmanager der Welt kann dabei sicherstellen, dass in hunderttausenden Dokumenten keine Inkonsistenzen vorhanden sind, die zu Verzug oder im schlimmsten Fall zu Fehlern im Betrieb führen.
Sie machen schlechtes Dokumentenmanagement also nicht nur für viele Überstunden verantwortlich…
Aus meinen eigenen Projekten und den Erfahrungen von Kollegen in verschiedensten Unternehmen weiß ich: Papier ist zunächst geduldig. Da kann das Design ein paar Jahre lang entwickelt werden und alles sieht gut aus. Dann kommt der Tag der Wahrheit, an dem die erste Hardware am Wareneingang erscheint, die dann zu den anderen Komponenten passen soll: Und plötzlich passen zum Beispiel zwei Stecker nicht zusammen, oder eine Minimaltemperatur wurde übersehen, die einen Sensor unbenutzbar macht, oder ein Team hat in seinen Analysen Werte verwendet, die bereits seit Monaten nicht mehr aktuell sind. Im besten Fall – und das passiert in Großprojekten praktisch täglich – werden Analysen wiederholt und Dokumente auf den neuesten Stand gebracht. Im schlimmsten Fall verzögern die Probleme das ganze Projekt um mehrere Monate, weil das Design geändert werden muss. Wenn man von Großprojekten hört, scheinen die Gründe für fatale Fehler oder Verzüge immer banal zu sein. Egal ob der Dichtungsring, der zur Explosion eines Space-Shuttles geführt hat, oder die Brandschutztüren am Flughafen Berlin: es liegt in der Regel nicht daran, dass die Mitarbeiter dieser Projekte unfähig wären. Ganz im Gegenteil: sie sind sehr fähig, aber haben keine Tools, die ihnen dabei helfen den Überblick über dieses hochkomplexe System zu behalten und die kleinen Fehler systematisch zu finden.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Software zu entwickeln, die Ingenieuren die Arbeit bei komplexen Projekten erleichtert?
Als ich vor einigen Jahren nach der Universität begann, als Satelliteningenieur zu arbeiten, war ich völlig überrascht: Die komplexesten Produkte, die die Menschheit baut, werden mit Excel und Word entwickelt. Für mich brach eine Welt zusammen; ich hatte Raumfahrt immer mit High Tech verbunden. Als ich dann auch noch sah, dass es nicht am Unternehmen lag, sondern diese und viele andere Branchen genau so arbeiten, hat es mir in den Fingern gekribbelt.
Mit meinen Programmierkenntnissen begann ich die Software zu entwickeln, fand Mitgründer und erste Kunden und damit den Start für ein eigenes Startup.
Marco Witzmann, Co-Founder und CEO bei Valispace
In der Luft- und Raumfahrt geht es in der Regel um sehr komplexe Konstruktionen, an die ganz unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Wie kann Ihre Software Ingenieure bei diesen ganz unterschiedlichen Planungsprozessen unterstützen?
Unsere Software ist zunächst einmal so generisch wie Excel es ist. Das heißt sie gibt nicht vor, ob damit ein Satellit, ein Flugzeug, eine Drohne, eine Ölplattform oder ein U-Boot entwickelt werden soll. Sie ist im Prinzip eine große Datenbank, die alle Ingenieursdaten des Produkts beinhaltet, aber auch mit diesen rechnen kann. Wenn der Bordcomputer schwerer wird, werden zum Beispiel automatisch alle Berechnungen, die darauf aufbauen, neu berechnet: Schwerpunkt des Satelliten, Kräfte und Momente, Raketenkompatibilität etc. Die von den geänderten Werten betroffenen Ingenieure bekommen direkt eine Benachrichtigung und ihre Analysen und Reports werden automatisch aktualisiert. Das macht unsere Software einzigartig: die am Markt verbreiteten Product Lifecycle Management (PLM) Systeme der großen Hersteller fokussieren sich meist nur auf CAD, also auf die digitalen Konstruktionspläne. Doch die machen gerade mal rund 20 Prozent der Ingenieursarbeit an einem Satelliten aus.
Sie haben Ihr Unternehmen in Bremen gegründet. Wie gut sind Sie in der Startphase unterstützt worden?
Das Startup Weekend Space in Bremen war genau der richtige Ort, um Mitstreiter für mein Startup zu finden und die Bremer Delegationsreise in diesem Sommer ins Silicon Valley war nicht nur inspirierend, sondern hat uns auch Geschäftskontakte in die USA eingebracht. Ich denke, dass Vernetzung im B2B-Bereich unglaublich wichtig ist; gerade weil die großen Unternehmen noch sehr zurückhaltend in der Kooperation mit Startups sind. Der Weckruf ist durch die NewSpace Unternehmen der USA schon angekommen, aber die Unternehmen wissen noch nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Ich denke, dass uns die Stadt Bremen in der Anfangsphase vor allem dadurch geholfen hat, dass sie in Veranstaltungen wie dem Disrupt Space Unternehmen und Startups zusammengeführt haben. Trotzdem haben wir was Kooperationen, Vernetzung und Investment angeht noch viel gegenüber dem Silicon Valley, aber auch gegenüber Berlin oder München aufzuholen.
Was sind die wichtigsten Vorteile des Standorts Bremen für Ihr Unternehmen?
Als Luft- und Raumfahrthauptstadt sitzen in Bremen vor allem die größten unserer (potentiellen) Kunden Deutschlands. B2B-Beziehungen basieren auf Vertrauen, und dafür ist eine gewisse örtliche Nähe nicht schädlich. Wenn sich diese großen Unternehmen noch den Ruck geben, um neue Wege zu gehen und mit der Kooperation mit Startups wie dem unseren weltweit technologieführend zu werden bzw. zu bleiben, dann hat sich die Standortwahl schon gelohnt.
Ihre Software funktioniert komplett webbasiert. Welche Vorteile bietet dies für Ihre Kunden?
Normale Business-Software ist mit einem mehrwöchigen Training verbunden und hat Update-Zyklen von manchmal mehreren Jahren. Zugriffe und Datenaustausch über Firmengrenzen hinweg sind ein Graus.
Gute Software hingegen muss leicht zu erlernen und bedienen sein, sollte Fehler schnell beheben und neue zeitgemäße Funktionalitäten hinzufügen, um die Arbeit der Ingenieure zu erleichtern.
Marco Witzmann, Co-Founder und CEO bei Valispace
In einem Konsortium von dutzenden Firmen mit tausenden von Ingenieuren, die über viele Jahre an einem Projekt arbeiten, ist es wenig sinnvoll, dass wir heute immer noch Daten per E-Mail hin und her senden und sie jeweils versuchen, in verteilten Systemen zu importieren und zu exportieren. Stattdessen sollte es einen zentralen Ort mit den richtigen Zugriffsrechten geben, sodass die Daten kompatibel und immer auf dem neusten Stand sind. Das funktioniert auch sicher und ganz ohne Cloud, wenn man das browserbasierte System auf Firmen-Servern installiert. Trotzdem funktioniert es dann über Betriebssysteme und Firmengrenzen hinweg, kann einfach skaliert und stetig auf dem neusten Stand gehalten werden.
Was Sind Ihre wichtigsten Ziele mit Blick auf die weitere Entwicklung Ihres Unternehmens?
Wir kommen aus der Raumfahrtbranche und haben das Problem der Ingenieure in diesem Bereich erkannt. Trotzdem zeigen unsere Recherchen und Gespräche mit vielen Ingenieuren, dass die gleichen Probleme in praktisch allen Branchen ungelöst sind. Größtes Ziel ist daher mit Valispace auch horizontal weitere Märkte zu erschließen; immer mit dem Fokus auf technisch komplexe Produkte, die in kleinen Stückzahlen hergestellt werden.
Sie haben, wenn man so will, Ihren eigenen Ärger erfolgreich in eine Geschäftsidee umgewandelt. Ist das ein Vorgehen, das Sie auch anderen potentiellen Gründern empfehlen können?
Jedes Startup sollte vor allem eines tun, um Wert zu schaffen: real existierende Probleme erkennen und lösen. Wenn man seine eigenen löst, ist man sich sicher, dass es schon mal einen ersten Kunden gibt.
Marco Witzmann, Co-Founder und CEO bei Valispace
Des Weiteren denke ich, dass das Silicon Valley uns im Consumer-Markt im Startup Bereich praktisch uneinholbar voraus ist. Gerade von den real zu lösenden Herausforderungen von Industrie und Gewerbe weiß aber ein typischer College-Abbrecher in den USA zu wenig, um potentielle Geschäftsideen zu erkennen und erfolgreich umzusetzen. Deshalb ist es, glaube ich, ein sehr guter Weg, zunächst in einen technischen Beruf einzusteigen, dann die vorhandenen Probleme in dieser Industrie zu erkennen und analysieren und letztlich mit einem eigenen Unternehmen zu lösen. Ich denke Deutschland sollte daher nicht versuchen, das Silicon Valley zu imitieren und die nächsten Facebook- oder Google-Gründer zu finden, sondern sich eher fragen, wie das nächste SAP, Siemens oder Bosch aus Deutschland kommen kann.
Herr Witzmann, vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Informationen zum Luft- und Raumfahrtsstandort Bremen finden Sie hier auf unserer Seite.
Ihre Ansprechpartnerin zum Thema Raumfahrt ist Dr. Barbara Cembella, Clustermanagerin Raumfahrt, Tel. 0421 9600-340, barbara.cembella@aviaspace-bremen.de.
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