Rührend und reibend den Weg ins All geebnet
Luft- und RaumfahrtOberstufe der neuen Trägerrakete Ariane 6 wird in Bremen gefertigt
In einer neuen Produktionshalle in der Nähe des Bremer Flughafens beginnt in Kürze die Fertigung der Oberstufe für die neue Trägerrakete Ariane 6. Die Oberstufe ist Herz und Gehirn der Rakete, deren Erstflug für Juli 2020 geplant ist.
Toleranzen im Bereich von Zehntel-Millimetern
Das Gebäude am Rande des Bremer Flughafens hat eine beeindruckende Größe. Ein gutes Dutzend Tennisplätze ließe sich unter dem Hallendach unterbringen, das fünf Stockwerke hoch in den Himmel ragt. Aber es steht nur eine einzige Maschine in der Halle – etwa sechs Meter hoch, vier Meter breit, gut 40 Tonnen schwer. Kaum zu glauben, dass dieser Koloss für filigrane Arbeiten ausgelegt ist. „Wir arbeiten mit Toleranzen im Bereich von Zehntel-Millimetern“, sagt Ralf Schleith, der beim Raumfahrtunternehmen MT Aerospace die Produktion der Tanks für die europäische Trägerrakete Ariane 5 leitet. Die Riesenhalle in Bremen ist sein jüngstes Betätigungsfeld: An der Maschine werden in Kürze die ersten Tanks für die Oberstufe der neuen Ariane 6 gefertigt, die 2020 das erste Mal ins All starten soll.
Kompetenzzentrum für den Raketenbau
Seit mehr als 20 Jahren werden in Bremen die Oberstufen für die Ariane-Trägerraketen gefertigt. „Im Fachjargon sprechen wir von Integration, weil hier Bauteile aus ganz Europa zu einem kompletten System zusammengefügt werden“, erläutert Ralf Schleith. Die dabei erworbene Kompetenz hat den Ingenieuren und Technikern in Bremen den Auftrag auch für das Nachfolgemodell Ariane 6 gesichert. Die Oberstufe ist Herz und Hirn jedes Launchers: Sie liefert nach dem erfolgreichen Start ins All den notwendigen Schub, die Satelliten an Bord auf die gewünschte Position im Orbit zu bringen. Zugleich enthält sie die Steuerungselektronik, die die Rakete exakt auf Kurs hält.
„Die Ariane 6 ist ein komplett neues System“
Federführend ist die deutsch-französische ArianeGroup, die die Rakete im Auftrag der europäischen Weltraumagentur ESA entwickelt und baut. Ihr wichtigster deutscher Partner ist MT Aerospace mit Hauptsitz in Augsburg. Das Unternehmen gehört zu 70 Prozent der Bremer OHB Systems AG und zu 30 Prozent dem bayerischen Unternehmer Hans Steininger. Neben den Tanks und weiteren Metallstrukturen für die Haupt- und Oberstufe ist MT maßgeblich am Bau der Startanlage in Kourou in Französisch-Guayana beteiligt. Für die bislang gestarteten 100 Ariane 5 lieferte MT die Oberstufentanks vormontiert nach Bremen, künftig erfolgt die Endmontage in der Hansestadt. Trotz ihrer jahrzehntelangen Erfahrung können sich MT und ArianeGroup dabei nicht auf den seit 1996 erworbenen Lorbeeren ausruhen: „Die Ariane 6 ist ein komplett neues System. Und auch die Produktion ist völlig neu entwickelt worden“, betont Schleith.
40 Prozent weniger Kosten – doppelte Stückzahl
Erst vor knapp vier Jahren beauftragten die Wirtschafts- und Forschungsminister der ESA-Mitgliedsländer die europäische Weltraumagentur mit dem Bau eines neuen Launchers. Ihre Forderung: Die Ariane 6 muss mindestens 40 Prozent billiger sein als die aktuelle Ariane 5. Außerdem soll die Produktion von derzeit fünf auf mindestens elf Stück pro Jahr verdoppelt werden. Zudem übertrugen die ESA-Minister das wirtschaftliche Risiko für die Vermarktung der Rakete auf die Industrie und stellten lediglich die Abnahme von fünf Raketen pro Jahr zu einem Festpreis von 70 Millionen Euro pro Stück in Aussicht. „Das war schon ein sehr ambitionierter Auftrag“, meint Schleith. „Letztlich mussten wir die Rakete und den Fertigungsprozess praktisch parallel zueinander entwickeln – und das in einem sehr engen Zeitrahmen.“
Ein Stück europäischer Raumfahrtgeschichte
Offenbar klappte das Vorhaben – während im französischen Les Mureaux noch an der Fertigungsanlage für die Ariane-Hauptstufe gebaut wird, fahren MT und ArianeGroup die Oberstufen-Integration in der Hansestadt schon Schritt für Schritt hoch. Die beiden Partner arbeiten in der „Airport-City“ buchstäblich Tür an Tür. Auf der einen Seite baut MT in der eigenen Halle die Wasser- und Sauerstofftanks zusammen und „schiebt“ sie dann zum Nachbarn ArianeGroup. Dort wird das Finish wie die Isolierung und die Reinigung der Tanks vorgenommen und schließlich alles zusammenfügt. Der Hallenkomplex wirkt zwar funkelnagelneu, ist tatsächlich aber ein Stück europäischer Raumfahrtgeschichte: „Er ist für den Bau der Ariane 5 ME gebaut worden, die ursprünglich als Nachfolgerin der heutigen Ariane 5 geplant war“, weiß Schleith. Die MT-Halle war mitsamt Maschinen bereits komplett eingerichtet, schließlich wurde dann aber nur ein einziger Tank als Prototyp gebaut. Bevor die Serienfertigung beginnen konnte, hatten die europäischen Raumfahrtpolitiker die 5-ME-Pläne verworfen und durch die Ariane 6 ersetzt.
Fertigungsprozess mit neuem Schweißverfahren automatisiert
Die „einsame“ blaue Maschine in der riesigen MT-Halle ist die Symbolfigur dafür, zu welchen Innovationen die politisch gewollte Kursänderung in der Raumfahrtindustrie geführt hat. Wenn ein Autohersteller seine Modellpalette neu ausrichtet, tauscht er in der Regel zwar die Werkzeuge, nicht aber seinen ganzen Maschinenpark aus. Die Bremer Raumfahrttechniker mussten sich dagegen von den für die Ariane 5ME installierten Anlagen wieder trennen – manchem Ingenieur dürfte das Herz geblutet haben, denn die neuen Maschinen waren nur wenige Male eingeschaltet worden. Andererseits leuchten die Augen der Techniker, weil sie für die Ariane 6 ein besonders anspruchsvolles Produktionsverfahren anwenden dürfen. „In Bremen schweißen wir die in Augsburg vorgefertigten Elemente zu kompletten Tanks zusammen“, erläutert Schleith. Für die Ariane 6 kommt das so genannte Reibrührschweißen – Fachbegriff friction-stir-welding – zum Einsatz. „Die Bleche werden unter enormen Druck durch Reiben und Rühren mit einem Spezialstift verbunden“, verdeutlicht der Experte.
Qualität ist das A und O in der Raumfahrt
Während beim herkömmlichen Schweißen immer Material hinzugefügt werden muss, kommt Reibrührschweißen ohne zusätzlichen Schweißdraht aus. Die Naht hat von Anfang bis Ende eine gleichbleibende Qualität und der gesamte Schweißprozess ist lückenlos durch die Aufzeichnung aller Parameter wie Druck, Reibgeschwindigkeit und Temperatur dokumentiert. Qualität ist das A und O in der Raumfahrt: „Raketen müssen extrem zuverlässig sein“, betont Schleith. „Deswegen müssen wir jeden Schritt exakt dokumentieren.“ Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: In einem Teil der Riesenhalle gibt es im Boden einen besonders gesicherten Raum, in dem jeder Tank einmal unter den späteren Betriebsdruck gesetzt und auf seine Haltbarkeit kontrolliert wird.
Tankdeckel des Wasserstofftanks hat einen Durchmesser von 5,4 Metern
Dass das an sich Jahrzehnte alte friction-stir-welding erst jetzt in der Raumfahrtindustrie angewandt wird, hat unter anderem den gleichen Hintergrund wie die Größe der Halle am Bremer Flughafen: „Wir haben es mit sehr großen Bauteilen zu tun, die man nicht mal gerade eben in einen Schraubstock spannt“, sagt Schleith. Den Tankdeckel des Wasserstofftanks hat einen Durchmesser von 5,4 Metern. Der Tank selbst hat ein Volumen von 70 Kubikmetern; auch der Sauerstofftank ist mit 4,60 Meter Durchmesser und 30 Kubikmeter Volumen alles andere als klein. „Solche Dimensionen muss man ja schließlich auch irgendwie bewegen können“, meint Schleith und blickt für einen Moment sinnierend hoch zur Hallendecke. „Na gut“, schmunzelt er dann: „Platz genug haben wir wohl.“ In wenigen Wochen wird es sich herausstellen, ob er recht hat: Wenn die weitgehend automatisierte Integration in der Nachbarhalle der ArianeGroup fertig ist, soll die Produktion der neuen Ariane 6 in Bremen starten.
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