„Bremen ist anderen Städten weit voraus“ – wie die Hansestadt zum Vorbild in der persönlichen Assistenz wurde
Social EntrepreneurshipBremer Assistenzgenossenschaft setzt auf Verantwortung und Mitbestimmung für Menschen mit körperlichen Behinderungen
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Genossenschaften bieten viele Vorteile für alle, die sich mehr Mitbestimmungsrechte und Verantwortung wünschen. Ein Beispiel ist die Assistenzgenossenschaft Bremen. In ihr bestimmen die Mitglieder mit, wie der Pflegebetrieb funktioniert. Das Bremer Modell macht über die Landesgrenzen hinweg Schule.
Ein selbstbestimmtes Leben zu führen, die eigenen Wünsche auszuleben und eigene Entscheidungen zu treffen sind Kernwerte unserer Gesellschaft. Was für die meisten selbstverständlich scheint, ist es längst nicht für alle. Denn für Menschen mit Behinderungen sieht der Alltag oft anders aus: Für sie gibt es vielerorts noch Barrieren. Manche von ihnen – wie fehlende Rollstuhlzugänge – sind offensichtlich, andere hingegen eher versteckt.
Wer im Alltag auf externe Hilfe angewiesen ist, kann zum Beispiel eine persönliche Assistenz erhalten, eine Person, die bei Pflege, Freizeitgestaltung, Haushalt oder bei der Teilnahme am öffentlichen Leben hilft. Für diese persönliche Assistenz gibt es zwei Modelle: Einmal als Dienstleistung, die Pflegebedürftige – im Fachjargon Assistenznehmer:in – über einen Pflegedienst gestellt bekommen oder einmal als Arbeitgebendenmodell, wo die Assistenznehmenden selbst als Arbeitgebende auftreten und die Personen – wie in einer Firma – beschäftigen.
Das zweite Modell bietet für die Assistenznehmenden noch mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten – sie können selbst entscheiden, wer sie wann und wie pflegt. Das ist wichtig, denn beide Personen verbringen sehr viel Zeit zusammen und sollten daher gut zusammenpassen. Aber Arbeitgebende:r zu sein bedeutet auch viel Aufwand und Bürokratie, die schnell zu viel oder gar überfordernd werden kann, wenn es etwa um Rechtsansprüche geht.
Assistenzgenossenschaft: Als Gemeinschaft stärker
„Und hier kommen wir ins Spiel“, sagt Horst Frehe, Vorstandsvorsitzender der Assistenzgenossenschaft Bremen. „Als Genossenschaft vereinen wir die Vorteile beider Modelle.“
Fast alle der 70 Assistenznehmenden im Unternehmen sind zugleich Genoss:innen – sie besitzen Anteile an der gemeinnützigen Genossenschaft, die sie bei der Aufnahme in der Genossenschaft erwerben (Minimum 1 Anteil pro Person ). Diese stellt das Pflegepersonal ein und übernimmt die Verwaltungsaufgaben. Die Entscheidung über die Personaleinstellung treffen die Vertreter:innen der Genossenschaft mit der assistenznehmenden Person zusammen. Wenn kein gutes Vertrauensverhältnis entsteht, wird die Person nicht eingestellt.
Damit fällt die Last, selbst Arbeitgebende zu sein, weg. Während die Entscheidungshoheit weitgehend bleibt. „Alle Mitglieder unserer Genossenschaft können entscheiden, wer assistiert, wo und wie viel – soweit die Kosten gesichert sind. Sie bekommen einen Überblick über die Kosten und damit größtmögliche Freiheit“. Insgesamt 400 Angestellte beschäftigt die Genossenschaft heute, der größte Teil davon Pflegepersonal, ein kleiner Teil sind Verwaltungskräfte. Während manche Assistenznehmer:innen nur wenige Stunden am Tag in Anspruch nehmen, benötigen andere 24h-Unterstützung, was eben auch eine entsprechende Menge an Personal erfordere, so Frehe.
Pflichten in einer Genossenschaft beachten
Er betont aber auch: Genossenschaftsmitglied zu sein bedeute aber nicht nur Organisationsaufwand abzugeben, sondern auch Verantwortung zu übernehmen. „Man ist Unternehmensinhaber:in. Das heißt: Jede und jeder Einzelne muss Entscheidungen treffen – ob nun beim Dienstplan oder der Einstellung von persönlichem Pflegepersonal – und sich wie ein Arbeitgebender oder eine Arbeitgebende verhalten, auf Arbeitnehmendenrechte achten.“ Dazu gehöre es etwa auch, mit den Assistenzgebenden im Alltag fair zusammenzuarbeiten. Darauf achtet Vorstand und Betriebsrat, die eng zusammenzuarbeiten, um die Interessen der Beschäftigten der Assistenzgenossenschaft zu wahren.
Zudem gebe es mindestens einmal jährlich eine Generalversammlung, bei der jedes Mitglied über Veränderungen abstimmen könne. Hier werde der Aufsichtsrat und Vorstand gewählt und jeweils entlastet. Auch hier eröffne sich die Möglichkeit der Mitarbeit. „Unser Aufsichtsrat schaut nicht nur auf die Finanzen, sondern auch darauf, wie sich die Genossenschaft entwickelt und ob dies im Sinne der Genossenschaftler:innen ist“, führt Frehe fort. Dabei gehe es nicht immer einstimmig zu, Debatten und Konflikte können durchaus entstehen und seien letztlich auch gewünscht.
Bremer Modell macht Schule
Als Horst Frehe 1989 die Assistenzgenossenschaft mitgründete, war er nicht nur ein Vorreiter in der Organisation von Assistenzpflege-Dienstleistungen, sondern auch darin, diese als Genossenschaft zu organisieren. So etwas gab es bis dahin im Gesundheitswesen selten.
„Mir war von Anfang an wichtig, dass die Menschen, die es betrifft, bestimmen können, wo der Kurs hingeht. Deshalb fielen eine GmbH oder ein Verein heraus, da es hier nicht diese umfassenden Mitbestimmungsmöglichkeiten gibt. Und da die Bremer Genossenschaft für die Betroffenen da ist, sollte sie gemeinnützig sein, damit wir das Geld bestmöglich für den Zweck verwenden können“, so Frehe.
Mit seinen 72 Jahren blickt der Jurist und ehemalige Richter am Bremer Sozialgericht auf eine lange Zeit des Einsatzes für Menschen mit Behinderung zurück. Bereits vor Gründung der Genossenschaft engagierte er sich aktiv für die Community und ist bis heute gefragt. Nicht nur in Bremen, auch überregional: So hat sich die Hamburger Assistenzgenossenschaft am Bremer Modell orientiert und Frehe erarbeitete mit der Wiener WAG Assistenzgenossenschaft deren Satzung. „Wir haben hier in Bremen mit unserer Arbeit Standards gesetzt und sind anderen Städten da weit voraus. Ich bin aber auch gern als Ratgeber dabei.“
Unterstützung bei Gründung einer Genossenschaft einholen
Wenn es um faire Mitbestimmung gehen soll, sind für Frehe Genossenschaften das Mittel der Wahl. In den 35 Jahren seit Bestehen hat er viele Erfahrungen gesammelt, die er gern auch an andere Genossenschaften weitergibt:
„Im Rückblick würde ich empfehlen, noch vor der Gründung zum Genossenschaftsverband zu gehen. Er bietet sehr wertvolle Hilfestellungen und Erfahrungen, die manche Kopfschmerzen ersparen“, resümiert er.
Ein wichtiges Learning: Die Satzung vor der Aufnahme der Geschäftstätigkeit zu schreiben. Der Genossenschaftsverband könne dann zum Beispiel noch das Dokument prüfen, Änderungen vorschlagen oder bei Finanzierungskonzepten oder Fragen zur Gemeinnützigkeit helfen.
Andere Themen seien eher Learning by Doing und kämen mit der Zeit. Etwa die Vorstandsarbeit – alle zwei Jahre kann der Vorstand gewechselt werden. Das hält Frehe aber für zu häufig, bei der Assistenzgenossenschaft Bremen werde der Vorstand etwa auf vier Jahre gewählt, damit dieser genug Zeit habe, Veränderungen anzustoßen. Auch die Anzahl der Vorstände sei variabel, bei größeren Genossenschaften empfehlt der Jurist mehrere Vorstände, um die Arbeit besser aufteilen zu können.
„Letztlich steht und fällt eine Genossenschaft aber mit dem Engagement der Mitglieder, denn dazu ist sie ja da. Aber wenn dies gegeben ist, kann man in vielen Branchen über dieses Modell sehr gut nachdenken,“ schließt Frehe.
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