Beine und Arme nach Maß
HandwerkProthesen aus Bremen sind europaweit gefragt
Künstliche Extremitäten sind ihr Spezialgebiet: Mit ihrem Betrieb GehProTec fertigen Peter Wehmeyer und Birgit Greubel pro Jahr rund 400 individuelle Arm- und Beinprothesen. Patientinnen und Patienten aus ganz Europa kommen zur Versorgung nach Bremen gereist.
Treffen sich ein Österreicher, ein Kanadier und ein Deutscher und testen Beinprothesen. Was klingt wie der Anfang eines schlechten Witzes, war für den Bremer Peter Wehmeyer der Einstieg in eine neue berufliche Laufbahn. Und der ging so: Bei einem Motorradunfall im Jahr 1989 hatte der heute 66-jährige Diplom-Verwaltungswirt seinen linken Unterschenkel verloren. Zwei Jahre später sprach er einen führenden Prothesenhersteller auf ein damals neu entwickeltes hydraulisches Kniegelenk an. Er bekam die Gelegenheit, das künstliche Gelenk noch vor der Markteinführung zu nutzen. Dabei stellte er sich so geschickt an, dass er einen Job als Testläufer und Entwicklungspatient angeboten bekam. In dieser Funktion war er 1993 mit zwei Prothesenträgern aus Österreich und Kanada an einer Weltneuheit beteiligt: an der Entwicklung der ersten Beinprothese mit elektronischem Kniegelenk. Damit war Wehmeyers Leidenschaft für die Prothetik, also der Entwicklung und Herstellung von Prothesen, geweckt.
Gemeinsamer Neustart als Paar und im Beruf
Wehmeyer ging in den Vertrieb, gründete eine Gehschule für Prothesenträger und begann, als Gutachter für diverse Berufsgenossenschaften zu arbeiten – bis er eines Tages bei einem Seminar die Orthopädietechnik-Meisterin Birgit Greubel kennen- und lieben lernte. Nach einigen Jahren im Prothesenbau war die 47-Jährige zu der Zeit in der Forschung und Entwicklung von Prothesenpassteilen tätig und schulte Technikerinnen und Techniker in ganz Europa. Gemeinsam beschlossen die beiden, sich selbstständig zu machen: So gründeten sie 2007 ihr Unternehmen GehProTec in der Bremer Airportstadt, das heute zu den führenden Anbietern von individuellen und hochtechnologischen Arm- und Beinprothesen gehört.
Unterschiedliche Prothesen für unterschiedliche Bedürfnisse
Von der vergleichsweise einfachen Passivprothese mit wenigen Funktionen bis zum hochmodernen Modell mit elektronischer Steuerung: Es gibt nichts, was hier nicht für die unterschiedlichen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten passgenau angefertigt wird. „Wir können alle Gliedmaßen, die in irgendeiner Form verloren gehen, ersetzen“, macht Birgit Greubel deutlich. Dabei kommt es immer darauf an, wofür die Prothese gebraucht wird: „Wer im Außendienst arbeitet, legt eher Wert auf eine hautnahe, natürlich gestaltete Hand, die nicht so viele Funktionen haben muss.“ In anderen Bereichen könne es dagegen wichtig sein, möglichst viele unterschiedliche Bewegungen auszuführen. „Je mehr eine Prothese kann, desto schwerer ist ihr Eigengewicht“, gibt Greubel aber zu bedenken.
Hohe Akzeptanz der High-Tech-Prothesen durch eigene Betroffenheit
Peter Wehmeyer kümmert sich vornehmlich um die Beinamputierten und ihre mechanischen und elektronischen Kniegelenke sowie um die Gehschule. „Es ist ein Riesenvorteil, dass ich selbst mit einer Prothese lebe. Dadurch kann ich beurteilen, ob ein Patient zum Beispiel tatsächlich Schmerzen hat oder ob es sich um einen Druck im Schaft handelt, den man auch mal tolerieren muss.“ Als Betroffener genieße er eine hohe Akzeptanz bei den Kundinnen und Kunden.
Immer wieder kommen aufgrund des Rufes, den sich GehProTec erarbeitet hat, auch Patientinnen und Patienten aus anderen europäischen Ländern zur Versorgung nach Bremen – erst kürzlich war sogar jemand aus Aserbaidschan hier, der bei einem Unfall ein Bein verloren hatte. „Bei den weit Angereisten muss es schnell gehen“, erläutert Wehmeyer. „Die kommen am Wochenende und fahren Mittwoch oder Donnerstag komplett versorgt wieder nach Hause.“ Wichtig ist es ihm, neben der perfekt sitzenden Prothese auch Wissen über deren körperschonenden Gebrauch mitzugeben. Darum nimmt er sich viel Zeit, biomechanische Abläufe zu vermitteln: „Nur so lernt der Patient, wie er mit seiner eigenen Muskulatur die Prothese stabilisieren und steuern kann.“
Deutschlandweit einmalige Armprothesen
Die gegenüber vom Büro gelegene Werkstatt ist das Reich von Birgit Greubel. Hier entstehen zunächst die klassischen Gipsabdrücke oder modernen 3D-Scans des jeweiligen Stumpfes, für den anschließend der individuelle Schaft angefertigt wird, der die Prothese mit dem Körper verbindet. Besonders beeindruckend sind die Armprothesen, die die 47-Jährige und ihr Team aus unterschiedlichen Komponenten zusammenbauen. Bisher funktionierten diese so, dass zwei im Schaft installierte Elektroden die winzigen elektrischen Spannungen aufnehmen, die bei gezielter Kontraktion der Muskeln im Stumpf entstehen. Über eingebaute Motoren wird die Prothese bewegt – und je nachdem, welcher Muskel angespannt wird, öffnet oder schließt sich die Hand, dreht sich das Handgelenk oder hebt oder senkt sich der künstliche Ellenbogen.
Stumpf wird mit 16 Elektroden abgetastet
Ganz neu ist nun eine Technik, die mit 16 Elektroden arbeitet und das Zusammenspiel mehrerer Muskelsignale aufnehmen kann. „Die Patientinnen und Patienten können damit ihre altbekannten Bewegungsabläufe nutzen und viel mehr unterschiedliche Bewegungen ausführen“, macht Greubel deutlich. Mittels Gedanken an den noch spürbaren amputierten Arm, den sogenannten Phantom-Arm, werde die Prothese gesteuert: „Der Stumpf und seine Bewegungen werden mit den 16 Elektroden abgetastet und die elektrischen Impulse mithilfe einer intelligenten Steuerung in der Prothese in Bewegungen umgewandelt“, erläutert sie. „Für Oberarm- und Schulterprothesen sind wir momentan die Einzigen in Deutschland, die das in diesem Umfang anbieten“, sagt sie.
Mit Drei-Finger-Modell den Geschirrspüler ausräumen
An diesem Tag sind Lars Schüler aus Schiffdorf und Siegfried Böhm aus Walsrode da, um ihre Unterarmprothesen warten zu lassen. Beide haben vor Jahren bei Arbeitsunfällen ihre rechte Hand verloren und mussten damals erst lernen, mit dem Schock zu leben und mit dem künstlichen Körperteil umzugehen. „Gerade in der ersten Zeit war ich oft verzweifelt“, erzählt der 49-jährige Lars Schüler. „Aber dann habe ich angefangen, mich mit der neuen Situation zu arrangieren.“ Im Laufe der Zeit testete er sechs unterschiedliche Handsysteme, doch am häufigsten nutzt er bis heute ein einfaches, schnelles Modell mit drei funktionierenden Fingern, mit dem er rasch und kräftig zugreifen kann. „Wenn ich den Geschirrspüler ausräume, ist das deutlich praktischer als die modernen Hightech-Modelle“, sagt er.
Lego zum Trainieren
Und auch Siegfried Böhm hat die meiste Zeit des Tages einen einfachen Greifer an seinem Prothesenschaft installiert. „Ich bin Landwirt und brauche das Ding zum Arbeiten – und nicht, damit ich sonntags in der Kirche hübsch aussehe“, sagt der 54-Jährige. Nur, wenn er auf dem Mähdrescher sitzt und einen Joystick bedienen muss, nutzt er ein Modell mit mehr Funktionen und unterschiedlichen Griffmustern. Den Umgang mit seiner Prothese hat Böhm geübt, indem er anfing, Lego-Technic-Modelle zusammenzubauen. Inzwischen stehen rund 450 selbstgebaute Modelle in seinem Keller, vom Big Ben bis zur Tower Bridge. „Das hat mir geholfen, eine besondere Feinfühligkeit zu entwickeln“, ist er überzeugt. Ein bisschen hübsch darf es dann aber trotzdem manchmal sein. So hat er sich einen seiner Schäfte mit einem Bild von Lego-Steinen verschönern lassen, auf einem anderen ist ein Foto seiner Hündin zu sehen. „Hautfarben finde ich langweilig“, erläutert er, „und so ist es ein bisschen wie eine Tätowierung.“
Individuelle Prothesen schaffen Selbstbewusstsein
Dass viele Amputierte ihre Prothesen inzwischen mit großem Selbstbewusstsein zur Schau stellen, ist für Peter Wehmeyer ein positives Signal. Individualisierung spiele eine große Rolle, berichtet er: „Wir fertigen relativ häufig Schäfte in bunten Farben oder mit auffälligen Motiven wie Comics oder Totenköpfen an. Die 3D-Druck-Technik ermöglicht uns da ganz besondere und individuelle kosmetische Gestaltungen.“
In manchen Ländern und Kulturen sei es allerdings immer noch so, dass es an Akzeptanz für künstliche Körperteile fehle. „Mir selbst ist das zum Beispiel im Portugal-Urlaub passiert, als ich in kurzer Hose im Restaurant saß und sich eine Familie mit Kindern weggesetzt hat. Kurz darauf hat draußen eine ältere Frau die Straßenseite gewechselt und sich bekreuzigt, als sie mich sah.“ Dem 66-Jährigen geht es immer auch darum, seinen Patientinnen und Patienten ein gewisses Selbstverständnis zu vermitteln. „Sich nach einer Amputation selbstbewusst zu bewegen, macht ganz viel aus. Wer positiv mit all dem umgehen kann und einen großen Lebenswillen hat, gewöhnt sich schnell an eine Prothese.“
Pressekontakt:
Birgit Greubel, Tel.: +49 421 598606-883, E-Mail: info@gehprotec.de
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