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8.7.2024 -

Briefe aus dem Vereinigten Königreich: Was bringt die neue Regierung?

Internationales

Informationen und Wissen rund um Wirtschaft und Investitionen in Großbritannien

London
© unsplash

Vier Jahre nach dem Brexit und wenige Tage nach den Neuwahlen: Welche Chancen für Unternehmen bietet das Vereinigte Königreich – und wie sieht sich die dortige Wirtschaft selbst aufgestellt? Das klärt UK-Experte Peter Decu in unserem neuen Länderbrief.

Direkt aus London berichtet Peter Decu, Direktor des dortigen Bremeninvest-Büros der WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH, und gibt uns einen Überblick über Trends, Chancen und neue Entwicklungen im Land. Wenn Sie diesen Länderbrief regelmäßig als Newsletter erhalten wollen, melden Sie sich gern hier an.

TCA, Windsor-Framework und Exporte: zwischen neuen Regeln und Neuwahlen

Straßenschild
© unsplash/Kane

Mit der neu gewählten Labour-Regierung im Vereinigten Königreich (UK) stellt sich für viele Unternehmen die Frage, wie sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Insel und Kontinent in Zukunft entwickeln werden.

Denn die vergangenen vier Jahre waren für Betriebe mit UK-Geschäft anspruchsvoll. Mit dem EU–UK Trade and Cooperation Agreement (TCA) und dem Nordirland betreffenden Windsor-Framework schafften beide Partnerinnen ein neues Regelwerk für gegenseitigen Handel, das eine solide Grundlage für künftige Handelsbeziehungen darstellt. Zwar gibt es zahlreiche neue Warenkontrollen, Zollabgaben und Vorschriften, aber Unternehmen können sich an diese anpassen – und haben es: Laut einer aktuellen Studie (German British Business Outlook (GBBO) der KPMG im Auftrag der britischen Außenhandelskammer in Deutschland BCCG) hat sich die Zahl der Unternehmen, die sich durch die Folgewirkungen aus Bürokratievorgaben, Zöllen und höhere Logistikkosten beeinträchtigt sehen, seit 2021 halbiert.

Regelmäßig treten zudem neue Abkommen und Verträge in Kraft, welche bisher noch offene Bereiche weiter und genauer definieren. So wurde etwa im Januar 2024 das „Border Target Operating Model“ Gesetz, das neue Regeln für den Import von Tieren, Pflanzen und Pflanzenprodukten enthält. Mehrere Tausend Gesetzesregeln müssen insgesamt von der britischen Regierung überarbeitet und neu verfasst werden.

Die Unsicherheit und Nachwehen des Brexits in den vergangenen Jahre haben aber ihre Spuren im Handelsgeschäft hinterlassen. Das Vereinigte Königreich ist in den vergangenen acht Jahren von Platz 5 der größten deutschen Handelspartner auf Platz 10 abgerutscht. Auch EU-weit zeigt sich ein ähnliches Bild: Zwar liegt die Zahl der EU-Exporte nach Warenwert in Richtung UK auf einem Rekordhoch, andersherum weitet sich aber das Handelsbilanzdefizit aus. Und auch die EU-Rekordexporte sieht etwa der UK-Thinktank „UK in a Changing Europe“ als Folge von zu langsam in Kraft tretenden oder noch gar nicht abgeschlossenen Freihandelsabkommen mit dem Rest der Welt, welche Großbritannien durch den Austritt aus dem EU-Wirtschaftsraum und dessen Freihandelsabkommen jetzt neu verhandeln muss. Und so bleibt auch das Wirtschaftswachstum im Vereinigten Königreich hinter dem vieler G7-Länder zurück – wobei einzelne Branchen positiv herausstechen, wie etwa der ohnehin starke englische Servicesektor (Banken/IT), der weiterhin kräftig wächst.

Handelsunternehmen sehen die Lage noch ambivalent: Im German British Business Outlook (GBBO) beklagen 52 Prozent der Unternehmen mit britisch-deutschem Geschäft eine Verschlechterung ihrer Lage seit dem Brexit, aber immerhin fast 40 Prozent erwarten in diesem Jahr eine leichte bis wesentliche Verbesserung.

Wird sich durch die neu gewählte Regierung dadurch etwas ändern? Auch wenn kein grundsätzlich anderer Kurs zu erwarten ist, wird die neue Regierung als aufgeschlossener erwartet, so Experten. Die neu getroffenen Abkommen grundlegend zu ändern wäre ein langwieriger Prozess, an dem beide Seiten kaum interessiert sind, weil er wiederum Jahre der Unsicherheit einleiten würde. Mit den jetzigen Abkommen gibt es genügend Planungssicherheit, um auf dieser Basis Geschäfte langfristig zu planen. Eher ist zu erwarten, dass es zu geringfügigen Nachbesserungen in verschiedenen Bereichen kommt sowie zu einer generell größeren Offenheit gegenüber EU-Positionen, wenn es zum Beispiel um Nachverhandlungen oder neue bilaterale Abstimmungen geht. Englische Industrieverbände fordern eine größere Wieder-Annäherung an die EU, während der GTAI-Experte Marc Lehnfeld aber auch betont, dass auch die EU Großbritannien entgegenkommen muss.

Längst ist nicht alles in den britisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen so trüb wie der englische Sommer und wie viele Nachrichtenmeldungen vermuten lassen: Zuletzt stieg die Investitionsbereitschaft deutscher Unternehmen in UK an. Und von den befragten Unternehmen in der KPMG-Studie sehen immerhin zwischen einem Drittel und der Hälfte wachsende Umsätze im Bereich Erneuerbare Energien und im Energiesektor. Rund 60 Prozent erwarten zudem in den kommenden fünf Jahren generell ein leichtes bis starkes Umsatzwachstum. Es gilt also genau hinzuschauen und zu prüfen, wo lukrative Nischen liegen.

Windkraft- und Wasserstoffsektor als Wachstumsmotor

Eine davon ist zweifelsohne der Energiesektor. Mit seinen langen Küsten ist das Vereinigte Königreich ein hervorragender Windenergiestandort – das haben viele längst erkannt. Bis 2030 sollen 50 Gigawatt an Leistung installiert werden (heute: rund 15 GW), das Land verfügt über rund 40 Prozent der EU-weiten Windenergiekapazitäten. Trotz der exzellenten Voraussetzungen waren die vergangenen Jahre aber herausfordernd für die UK-Windindustrie. Branchenvertreter:innen beklagen Planungsunsicherheiten, wechselnde politische Richtungen und hohe Bürokratie und dadurch ein sehr langsames Wachstum – ganz ähnliche Herausforderungen wie in Deutschland. Hinzukommt die Herausforderung, passende Fachkräfte in einem wachsenden Umfeld zu finden. Trotzdem hält das UK an seiner Politik von einer Dekarbonisierung des Strommarkts bis 2035 und von Net-Zero bis 2050 fest. Von der neuen Regierung erwartet sich die Branche wieder mehr Unterstützung.

Für Aufbruchsstimmung sorgt in diesem Zusammenhang aber nicht nur der stetige Zubau, sondern auch die Wasserstoffindustrie. Im UK entwickelt sich hier eine wachsende Industrie, in der erste Projekte bereits Form annehmen, bis 2030 sollen zehn Gigawatt an Produktionskapazität entstehen. Die Aussichten sind gut: Die Nordsee soll zum „Wasserstoffkraftwerk Europas“ werden, so ein GTAI-Bericht. Großbritannien soll dabei eine Schlüsselrolle als Netto-Exporteur zukommen, das Land kann mehr Wasserstoff exportieren als selbst verbrauchen. Mit Deutschland in der umgekehrten Rolle ergibt sich so ein lukrativer Handelsmarkt. Dazu werden bereits heute die ersten Schritte eingeleitet: Neben gemeinsamen Regierungserklärungen gibt es eine schottische Studie, die einen „Hydrogen Backbone Link“ propagiert, eine Pipeline zwischen Schottland und Norddeutschland.

Im Strombereich sind diese Planungen schon weiter: Hier begann im Mai 2024 der Bau einer neuen Leitung zwischen England und Deutschland, die es erleichtern soll, Windstrom in Europa zu transportieren.

Wirtschaftsbeziehungen stärken: Neue Märkte für Wasserstoff und KI mit Delegationsreisen erobern

Menschen vor einem Gebäude
© WFB

In einen neuen Markt eintauchen – das ermöglichen Delegationsreisen. Zwischen dem Vereinigten Königreich und Bremen organisierte Bremeninvest deshalb in den vergangenen Jahren eine Reihe an Reisen, die bei der Markterkundung unterstützen.

Jüngstes Beispiel ist eine Reise zum Thema Künstliche Intelligenz, die im Juni 2024 sieben Unternehmen aus England nach Bremen einlud. Auf der Agenda standen Unternehmensbesuche unter anderem bei Ubica oder Topas, Institutsbesuche beim Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz DFKI, aber auch ein Pitchabend auf den Bremer KI-Tagen 2024, bei denen erste Fühler in Richtung Kooperation ausgestreckt wurden.

Der Delegationsbesuch fand statt im Rahmen des ISW Programms (Internationalisierung für Regionen im Strukturwandel). Die Federführung für das Programm liegt bei Germany Trade and Invest (GTAI) und dem übergeordneten Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Vor Ort durchgeführt wurde das Programm von Bremeninvest in Zusammenarbeit mit der Senatorin für Wirtschaft, Häfen und Transformation. Mit Blick in die Zukunft plant man bereits den nächsten Schritt: Ein Antrag für das ISW-Programm Outbound nach Großbritannien soll die Möglichkeit eines Gegenbesuchs eröffnen, der sich thematisch auf die Bereiche erneuerbare Energien und Wasserstoff konzentrieren soll.

Es wäre dann nicht der erste Besuch einer Bremer Abordnung in UK. So gab es in der Vergangenheit bereits Reisen nach Schottland mit Schwerpunkt auf das Thema Wasserstoff, zuletzt zur All-Energy 2024 in Glasgow. Das Ziel: die Stärken beider Standorte im Bereich der Erneuerbaren Energien zu nutzen. Auch hier hat sich eine vertrauensvolle Beziehung entwickelt. Bremeninvest agiert hier als Teil von HY-5, einem Zusammenschluss der norddeutschen Wirtschaftsförderungen im Bereich Wasserstoff.

Sie interessieren sich für Großbritannien als Markt und an einer potenziellen Delgationsreise? Dann melden Sie sich gern bei Peter Decu:

Peter Decu

Bremeninvest United Kingdom / Office London

Director Bremeninvest UK / Brelon Ltd.

!ten.nolerb[AT]ucedretep

Drei Fragen an Peter Decu zur Lage der Wirtschaft in UK

Karin Noetzel und Peter Decu
Im Team fürs Vereinigte Königreich: Karin Noetzel und Peter Decu © WFB/Rathke

Als bekennender Anglophiler und Experte für internationalen Handel vertritt Peter Decu das Bundesland Bremen in UK. Seine Einschätzung zur aktuellen Lage:

1. Herr Decu, Sie reden in den UK mit vielen Firmen. Wie nimmt die Wirtschaft die Lage rund um Exporte/Importe in Richtung EU derzeit wahr?

Ich habe mal zusammengezählt: Seit 2021 habe ich 81 Messen besucht und dabei 1.145 Firmenkontakte wahrgenommen. Ich habe dabei nur fünf Brexit-Fans kennengelernt, das hat mich sehr überrascht, denn es gleicht ja nicht im Entferntesten dem Abstimmungsergebnis des Referendums. Branchenbedingt haben vor allen Hersteller:innen im F&B-Bereich mit dem Brexit zu kämpfen und es gab einige wenige, die den Export nach Europa eingestellt haben. Die meisten allerdings haben zum Ausdruck gebracht, dass der Export in die EU durch den Brexit erschwert wurde, es aber auch keine „Rocket Science“ sei. Man braucht etwas mehr Zeit, Aufwand und die Kosten haben sich erhöht. Wenn man aber einmal weiß, wie die neuen Anforderungen sind und das Prozedere abläuft, dann läuft das Geschäft recht normal weiter. Auf einer Logistik-Messe waren die Aussagen der Speditionsunternehmen eher positiv, denn durch die erschwerten Anforderungen hat sich die Loyalität der Kundinnen und Kunden Brexit-bedingt erhöht.

2. Ergeben sich derzeit auch Chancen für deutsche Unternehmen? Wie können sie diese am besten wahrnehmen?

Deutschland und Großbritannien sind historisch gesehen schon immer gute Handelspartner gewesen und da gibt es auf beiden Seiten weiterhin gute Chancen und Möglichkeiten. Der Brexit ist ein Stolperstein, aber kein unüberwindbares Hindernis für die Fortführung der Geschäftskontakte.

3. Ihr Ziel ist es, die bremisch-englischen Wirtschaftsbeziehungen zu stärken und Unternehmen aus dem UK für Bremen zu begeistern. Welche Services und Angebote benötigen Firmen, damit es zu einem positiven wirtschaftlichen Austausch kommt?

Bremen hat natürlich durch die Historie einer Hafenstadt ein ausgesprochen breit aufgestelltes und sehr diverses Portfolio für Firmenansiedlungen in Deutschland. Da ich selbst seit über 30 Jahren nicht mehr in Bremen lebe, bin ich auch immer ganz begeistert, wenn ich den weit entwickelten Stand nicht nur der klassischen Industrien sehe, wie zum Beispiel Automobil-, Lebensmittel- und Getränkeindustrie. Aber auch Raumfahrt, Wasserstoff und KI sind Themen, in denen in Bremen eine ganze Menge passiert und man viele „Hidden Champions“ findet. Das Rückgrat bildet die ausgezeichnete Logistik-Kompetenz, das ist für viele Firmen wichtig.

Bremen ist im Vereinigten Königreich heute nicht so sehr bekannt und da muss viel Aufbauarbeit geleistet werden. Wenn man dann mit englischen Unternehmer:innen Bremen besucht, fühlen sich alle immer überraschend wohl, denn die Chemie der Norddeutschen passt sehr gut zum Anglophilen. Kurze Wege, schnelles Agieren und die freundliche Willkommenskultur der Hanseatinnen und Hanseaten tut ein Übriges, um allen ein ausgesprochen positives Bremen-Gefühl zu geben. Ich glaube ferner auch, dass dies ein Kernelement von unseren Services ist. Wir gehen individuell auf die Firmen ein und finden für sie maßgeschneiderte, pragmatische Lösungen.

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