+49 (0) 421 9600-10
24.4.2017 - Berit Böhme

Die Plattmacherin

Lebensqualität

Von wegen verstaubte Folklore! Gesine Reichstein beweist, dass Plattdeutsch sogar nachrichtentauglich ist.

Es ist kurz vor halb elf. Gesine Reichstein betritt das Studio, lächelt der Moderatorin zu und greift zum Kopfhörer. Noch ein schneller Blick aufs Manuskript, dann ist sie auf Sendung. Für die nächsten dreieinhalb Minuten ist der Äther fest in plattdeutscher Hand. Die niederdeutschen Nachrichten bei Radio Bremen sind Kult.

Op Platt trechtmaakt

Wenn Gesine Reichstein morgens zum Sender radelt, haben ihre Kollegen aus der Nachrichtenredaktion bereits die wesentlichen Meldungen aus der täglichen News-Flut herausgefiltert. Das hochdeutsche Manuskript landet bei der Germanistin auf dem Schreibtisch und wird inklusive Wettervorhersage ‚op Platt trechtmaakt un vörleest‘.

Hochdeutsch erst in der Schule

"Plattdeutsch ist bei mir Muttersprache. Hochdeutsch habe ich in der Schule gelernt." Niederdeutsch belegte sie dann auch im Rahmen ihres Lehramtsstudiums in Göttingen. Dennoch musste sie nochmal tüchtig pauken, als sie beim Heimatfunk von Radio Bremen anfing. Denn ihr Platt aus Bad Bentheim war nicht kompatibel mit dem Bremisch-Oldenburgischen Zungenschlag.

Ich hab' mir das Rundfunkplatt angewöhnt. Ich musste alles neu lernen, auch die Konjugationen.

Gesine Reichstein, Radio Bremen

Routine kam nicht über Nacht

Heute bringt die ehemalige Deutschlehrerin kaum noch eine Nachricht aus der Fassung. Auch nicht, wenn ihr die Kollegen eine Viertelstunde vor der Sendung noch eine Eilmeldung rüberschieben. Doch die Routine kam nicht über Nacht. „Ich habe mindestens fünf Jahre gebraucht“, gesteht sie und streicht sich eine blonde Locke aus dem Gesicht. Als Reichstein 1995 bei den plattdeutschen Nachrichten anfing, grübelte sie schon auf dem Weg zur Arbeit über mögliche Formulierungen.

Ernste und weniger ernste Nachrichten

Reichstein bevorzugt klare, kurze Sätze und Bilder. Sie wägt genau ab, welcher Wortschatz zur Nachricht passt.

Im Plattdeutschen klingt vieles nicht so hart.

Gesine Reichstein, Radio Bremen

Bei Nachrichten zu Sexualstraftaten oder Terroranschlägen ist viel Fingerspitzengefühl gefragt. „Es gibt auch Nachrichten, die sind nicht so ernst, etwa eine Eröffnung oder Grammy-Preisverleihung.“ Und beim Wetter heißt es statt morgendlichem Sprühregen schon mal ‚Hier un dor kann dat s’morrns erst pieseln‘. Eine Herausforderung beim Vorlesen sind Sätze mit englischen Namen. Wegen der Parallelen zwischen Platt und Englisch droht hier Verhaspelungsgefahr.

Den Hörer mitnehmen

Zuweilen hadert Reichstein mit den hochdeutschen Nachrichtenkollegen. Etwa wenn bei einem ganzen Heer von Fremdwörtern die Verständlichkeit auf der Strecke bleibt. „Man muss den Hörer auch noch mitnehmen“, mahnt sie. Die Plattexpertin bemüht sich in solchen Fällen, zumindest das Schlüsselwort verständlich rüberzubringen. Ein „richtig hartes Ding“ sind für sie außerdem Wissenschaftsnachrichten. „Forschungsergebnisse sind das Allerletzte“, gesteht sie lachend. „Etwa vom Alfred-Wegener-Institut oder aus der Raumfahrt.“ Auch Worte wie ‚versicherungsmathematischer Abschlag‘ oder ‚crossmediale Programminnovation‘ bereiten ihr Kopfzerbrechen.

Fünfköpfiges Team

Gesine Reichstein leitet ein fünfköpfiges Platt-Nachrichten-Team. Darunter sind auch zwei Experten des Instituts für Niederdeutsche Sprache (INS) in Bremen. Die Plattmacher wechseln sich ab, Reichstein ist montags dran. Anderntags schaut sie regelmäßig mit frischem Kaffee bei den diensthabenden Kollegen vorbei und steht ihnen bei Fragen zur Seite. „Ich leite sie an, Sprachbilder zu finden. Aber ich will das nicht kontrollieren.“

Wörterbücher und Netzwerke

Neben plattdeutschen Wörterbüchern stöbert Gesine Reichstein gerne mal im Niederländischlexikon. Zuweilen ruft sie auch einen befreundeten Amtsarzt an, um den niederdeutschen Namen für eine Krankheit herauszufinden. „Die Pocken beispielsweise gab es ja früher schon, also gibt es da auch ein Wort für.“ Das Vokabular speist sich jedoch nicht nur aus „altem Platt“, sondern wächst stetig. So wird das Mobiltelefon zum ‚Klöönkasten‘ oder ‚Ackerschnacker‘. Und ‚VIPS‘ sind ‚heel wichdige Lüüd‘.

Hörer sind toleranter geworden

Die plattdeutschen Nachrichten feiern im Juli 2017 ihren 40. Geburtstag. Ins Programm kamen sie 1977 per Zufall, nachdem ein Redakteur einen niederdeutschen Satz in die Nachrichten eingebaut hatte. Das kam so gut an, dass regelmäßig Platt-Nachrichten gesendet wurden. Zunächst zwei Mal wöchentlich, seit 1995 montags bis freitags um 10.30 Uhr.

Die Hörer sind toleranter geworden.

Gesine Reichstein, Radio Bremen

Reichstein ist auch Publikumsbeauftragte des Senders. Früher habe es häufiger Kritik an einzelnen Formulierungen gegeben. Heute haben die Nachrichten Fans im In- und Ausland und werden auch im Lehrbetrieb eingesetzt.


Mehr über Plattdeutsch erfahren Sie beim Institut für niederdeutsche Sprache (INS), das seinen Sitz in Bremen hat.


Bilddownload

Das Bildmaterial ist bei themengebundener Berichterstattung und unter Nennung des jeweils angegebenen Bildnachweises frei zum Abdruck.

Foto 1: Moderatorin Gesine Reichstein leitet das fünfköpfige Platt-Nachrichten-Team bei Radio Bremen © Berit Böhme

Foto 2: ‚Klöönkasten‘ oder ‚Ackerschnacker‘ (auch bekannt als Mobiltelefon) – Moderatorin Gesine Reichstein bekommt jedes Wort platt © Berit Böhme

Foto 3: Die plattdeutschen Nachrichten bei Radio Bremen feiern im Juli 2017 ihren 40. Geburtstag. Gesine Reichstein ist bereits seit 1995 Teil des Redaktionsteams © Berit Böhme


Der Pressedienst aus dem Bundesland Bremen berichtet bereits seit Juli 2008 monatlich über Menschen und Geschichten aus dem Bundesland Bremen mit überregionaler Relevanz herausgegeben von der WFB Wirtschaftsförderung Bremen GmbH. Der Pressedienst aus dem Bundesland Bremen arbeitet ähnlich wie ein Korrespondentenbüro. Bei den Artikeln handelt es sich nicht um Werbe- oder PR-Texte, sondern um Autorenstücke, die von Journalisten für Journalisten geschrieben werden.

Bei Fragen schreiben Sie einfach eine E-Mail an pressedienst@bremen.de.

Erfolgsgeschichten


Pressedienst
14.03.2024
Fliegende Roboter

Drohnen übernehmen immer mehr Aufgaben im Alltag, in der Wirtschaft oder in der Wissenschaft. Der Verkehr in der Luft wird dadurch immer mehr und muss so wie auf dem Boden koordiniert werden. Das könnte künftig bundes- und europaweit von Bremen aus passieren.

Mehr erfahren
Pressedienst
26.02.2024
Männer, die aufs Wasser starren

Die Bremerhavener Unternehmer Nico Flathmann und Joschka Traue haben mit ihren trocken erzählten Witzen die sozialen Netzwerke erobert. Ihre Videos als „Männer, die aufs Wasser starren“ haben Millionen Likes. Nun besteigen sie die Bühne und gehen auf Deutschland-Tournee.

nach Bremerhaven
Pressedienst
23.02.2024
Die Endlichkeit im Blick

Wer einen wichtigen Menschen verliert, erlebt das häufig als tiefe Krise. Tanja Brinkmann unterstützt Trauernde dabei, neue Zuversicht zu finden. Als Mitgründerin des bundesweiten Netzwerks „Trauer am Arbeitsplatz“ berät sie auch Unternehmen, die mit einem Todesfall konfrontiert sind.

Mehr erfahren